„In dieser hochheiligen Nacht ist uns das wahre Licht aufgestrahlt“ 

„Als tiefes Schweigen das All umfing und die Nacht in ihrem Lauf bis zur Mitte gelangt war, da sprang dein allmächtiges Wort vom Himmel, vom königlichen Thron herab“ (Weish 18,14-15). Diese Schriftstelle weist auf die hochheilige Zeit hin, da das allmächtige Wort Gottes zu uns gekommen ist, um zu uns von unserem Heil zu sprechen. Hervorgegangen aus dem innersten Geheimnis des Vaters stieg es hinab in den Schoß einer Mutter. […] Das Wort Gottes kommt also von seinem königlichen Thron zu uns. Es erniedrigt sich, um uns zu erhöhen; es wird arm, um uns reich zu machen; es wird Mensch, um uns zu vergöttlichen. Dieses Wort hatte gesagt: Es werde die Welt, und die Welt wurde; es hatte gesagt: Es werde der Mensch, und der Mensch wurde. Aber was das Wort geschaffen hatte, das schuf es nicht mit der gleichen Leichtigkeit neu. Geschaffen hat es durch seinen Befehl, aber neu geschaffen durch seinen Tod. Geschaffen hat es, in dem es befahl, aber neu geschaffen, indem es litt. „Ihr habt mir viel Mühe bereitet“, sagte es (vgl. Mal 2,17). Das Universum in seiner ganzen Komplexität zu ordnen und zu regieren, das hat mir keine Mühe bereitet, denn „ich entfalte meine Kraft von einem Ende zum anderen und durchwalte voll Güte das All“ (vgl. Weish 8,1). Nur der Mensch, der mein Gesetz brach, hat mir Mühe bereitet mit seinen Sünden. Deshalb bin ich vom himmlischen Thron herabgestiegen und habe mich nicht geweigert, mich in den Schoß einer Jungfrau einzuschließen und mich in einer einzigen Person mit der gefallenen Menschheit zu vereinen. Gleich nach meiner Geburt wurde ich in Windeln gewickelt und in eine Krippe gelegt, weil in der Herberge kein Platz war für den Schöpfer der Welt. […] Alles war in tiefes Schweigen gehüllt, das heißt zwischen den Propheten, die nicht mehr sprachen, und den Aposteln, die erst später sprechen sollten. […] Möge doch das Wort des Herrn auch jetzt noch zu denen kommen, die Stillschweigen bewahren! Lasst uns hören, was der Herr in unserem Innersten spricht (vgl. Ps 84,9 Vulg.). Mögen doch die unglückseligen Regungen und Schreie unseres Fleisches verstummen, mögen doch die ungeordneten Bilder unserer inneren Vorstellungen verschwinden, damit unsere aufmerksamen Ohren ungehindert hören können, was der Geist sagt, damit sie die Stimme hören könnten, die über dem Firmament spricht!

Julian von Vézelay (um 1080-um 1160) Benediktinermönch